Call for Papers

  • Call for Papers für die Ausgaben 01/2025 + 02/2025: Geschichte/n von Behinderung

    Der Call for Papers als barrierefreies pdf.

    Geschichte/n von Behinderung – Leben und Geschichte schreiben aus der Perspektive der Dis/ability History

    Unter dem Namen Dis/ability History hat sich in den letzten Jahren ein eigenes Forschungsfeld an der Schnittstelle von Dis/ability Studies und Geschichtswissenschaft etablieren können. Dis/ability History will zum einen Behinderung eine eigene Geschichtlichkeit zuerkennen und gleichzeitig die Bedeutung von Dis_ability als historische Analysekategorie herausarbeiten, denn „disability is central to understanding history” (Burch & Rembis, 2014, S. 1). Behinderung dient so als erkenntnisleitende Kategorie, um zu erforschen, wie in der Vergangenheit mit menschlicher/gesundheitlicher Differenz umgegangen wurde. Darüber hinaus eröffnet Dis/ability History der allgemeinen Geschichtswissenschaft neue und kritische Perspektiven auf ihre „Meistererzählungen” (Barsch & Bösl, 2022, S. 222) wie Fortschritt, Individualisierung, Liberalisierung und Pluralisierung.

    Verkörperte Differenz im historischen Kontext

    Anliegen der Dis/ability History ist die Erforschung der gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Diskurse, in denen die Konstruktion von Behinderung erfolgt. „Disability History betrachtet diese Fragen in ihrer historischen Gewordenheit und versucht so, eine neue Geschichtsschreibung zu entwickeln, die sich damit befasst, wie Gesellschaften jeweils ‚Normalität’ und ‚Abweichung’ definieren und herstellen, wie sie mit Abweichungen umgehen, aber auch, welche Rolle dabei jeweils Machtverhältnisse und das verfügbare Wissen (z.B. über den menschlichen Körper) spielen” (Köbsell, 2015, S. 38f). Grundlegend für die Dis/ability History ist das Konzept der „verkörperten Differenz”, das ermöglicht danach zu fragen, „welche Phänomene in welchen sozialen Kontexten überhaupt als Beeinträchtigung (bzw. als Krankheit, Schwäche oder Bedürftigkeit) sicht- und abgrenzbar gemacht werden und welche soziokulturellen Bedeutungen sich damit verbinden” (Bösl & Frohne, 2022, S. 131).

    In den Blick genommen werden Konzepte von Nicht_Behinderung, bzw. von verkörperter Normalität und Abweichung. Es geht um die Sichtbarmachung des Umgangs mit menschlicher Diversität im Lauf der Geschichte – von lange vergangenen Zeiten, in denen es den modernen Sammelbegriff „Behinderung” noch nicht gab, bis in die jüngste Geschichte hinein. So erforschte etwa die Arbeitsgruppe „Homo Debilis“ an der Universität Bremen (2007-2016) die Geschichte körperlicher Differenz in der Vormoderne, während an der Universität Kiel von 2012-2017 die Geschichte behinderter Menschen in Ost- und Westdeutschland nach 1945 untersucht wurde. Je nach historischer Epoche erfolgen dabei unterschiedliche Schwerpunktsetzungen, aber die grundlegenden Fragen sind durchgehend: Wie werden Menschen als anders markiert, bzw. wer wird warum als anders markiert und mit welchen Konsequenzen? Wie wurden diese Individuen oder sozialen Gruppen dargestellt, ihre „Andersheit” bewertet – und was lässt sich daran für Gegenwart und Zukunft lernen?

    Menschen mit Beeinträchtigungen als aktive Gestalter*innen ihrer Geschichte/n

    Mit beiden Ausgaben der ZDS im Jahr 2025 soll der zentralen Forderung der Dis/ability History Raum gegeben werden, Menschen mit Behinderungen nicht nur als Objekte, sondern als selbstbestimmte Subjekte der allgemeinen sowie ihrer eigenen Geschichte zu begreifen. Es soll Aufschluss gegeben werden über die Breite und Vielfalt des Lebens von Menschen mit Beeinträchtigungen in unterschiedlichen historischen Epochen. Dabei soll es vor allem auch darum gehen, Erkenntnisse über diese Individuen jenseits des Status als passive Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse zu gewinnen und die (auto-) biographischen Potentiale der Dis/ability History produktiv zu machen.

    Im Zentrum des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses stehen dabei wissenschaftliche wie künstlerische Arbeiten und/oder Forschungsprojekte, die dezidiert die Perspektive von Menschen mit Behinderungen einnehmen. Geschichte sowie die eigene Geschichtlichkeit können dabei einerseits aus der bottom-up-Perspektive mittels Selbstzeugnissen unterschiedlichster Art untersucht werden. Andererseits ist es auch möglich, die Geschichte behinderter Menschen aus zeitgenössischen Dokumenten und Archivalien in Schrift und Bild „von außen“ zu rekonstruieren.

    Gezeigt werden können so die vielfältigen Lebensentwürfe, Lebensformen, Lebensmöglichkeiten und Lebensverunmöglichungen behinderter Menschen in unterschiedlichen historischen Zeiträumen und unter variierenden politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen.

    Historisch wie zeitgeschichtlich sollen die Beiträge der ZDS Ausgaben 2025 Antworten auf die Frage geben, wie Menschen mit Beeinträchtigungen ihre Lebenssituation aktiv gestaltet haben – individuell und als Mitglieder der Gesellschaft, als Einzelne und ggf. (behindertenpolitisch) Organisierte. Mit welchen Herausforderungen, Konflikten und Widersprüchlichkeiten sahen sie sich konfrontiert und wie sind sie damit umgegangen? Welche Verständnisse von Dis_ability (Nicht_Behinderung) waren zu den jeweiligen Zeiten vorherrschend und wirkmächtig und wie konstruierten diese die Kategorien Nicht_Behinderung mit? Welche Selbstentwürfe entwickelten und vertraten beeinträchtigte Menschen unter den jeweiligen gesellschaftlichen Macht- und Gewaltverhältnissen?

    Ganz besonders laden wir zur Einreichung von Forschungen zu (zeit-) historischen (Auto-) Biografien, (auto-) biographischen Texten oder anderen (Selbst-) Zeugnissen von beeinträchtigten Menschen ein, die erschlossen, bekannt gemacht, wiederveröffentlicht und historisiert, also aus ihrem (zeit-) historischen Kontext heraus verstanden und/oder neu gelesen und gedeutet werden könnten.

    Wie haben behinderte Menschen ihr Leben erlebt und gelebt und welche individuellen wie gesellschaftlichen Voraussetzungen haben Selbstorganisationen ermöglicht? In diesem Zusammenhang ist auch die Rekonstruktion, Bewahrung und Überlieferung der internationalen Geschichte von Behindertenbewegungen und ihrer Vernetzungen sowie der deutschsprachigen ersten, zweiten und dritten Behindertenbewegung von grundlegender Bedeutung.

    Auch theoretische Überlegungen zur Frage, ob und wie (auto-) biographische Selbstzeugnisse als Ausdruck von Zeitzeug*innenschaft produktiv gemacht werden können, wären von besonderem Interesse. Weitere mögliche Fragestellungen beziehen sich auf die schwierige Quellenlage zum Phänomen Behinderung: Welche Zugänge zu möglichen (neuen) Quellen, Beständen und Archivalien wären zu erschließen oder sind bereits erschlossen worden? Wie können Quellen zum Sprechen gebracht werden? Welche methodischen Zugänge nutzen Dis/ability Historians und welchen Herausforderungen begegnen sie dabei?

    Einreichung

    Der Call lädt zur Einreichung von Abstracts für Beiträge ein, die untersuchen oder zeigen, wie sich Lebensentwürfe und Lebensgestaltungen von Menschen mit Beeinträchtigungen aus der Perspektive der Dis/ability History rekonstruieren und/oder neu, anders, subversiv deuten und verstehen lassen. Willkommen sind uns dabei Produktionen, Vorhaben oder Projekte aus geschichtswissenschaftlichen wie nicht-geschichtswissenschaftlichen Feldern wie etwa von Kulturwissenschaft, Soziologie, Literaturwissenschaft und Philosophie. Beiträge aus den Blind Studies, Deaf Studies oder Mad Studies sind selbstverständlich auch dann willkommen, wenn sie nicht mit dem Begriff Dis/Ability History als Oberbegriff, sondern mit den entsprechenden analogen Bezeichnungen arbeiten (möchten).  

    Eingeladen sind – auch aus künstlerischen & aktivistischen Kreisen – Beitragsvorschläge für die verschiedenen Rubriken der ZDS (Fachbeitrag, Debattenbeitrag, Zwischenruf). Hinweise zur Manuskriptgestaltung nach Annahme des Abstracts siehe https://zds-online.org/

    Wir freuen uns auf zahlreiche Einreichungen von Abstracts!

    Die ZDS Ausgabe 1/2025 soll imFrühjahr2025 erscheinen. Um das zu ermöglichen, bitten wir darum, die folgenden Fristen zu beachten:

    Einreichung Abstracts | 01.04.2024
    Auswahl der Abstracts / Rückmeldung an Einreichende| 01.05.2024
    Einreichung des Manuskripts | 01.08.2024        
    Versendung der Reviews an Einreichende | 15.09.2024
    Einreichung der überarbeiteten Manuskripte | 01.11.2024
    Rücksendung 2. Feedback an Autor*innen | 15.12.2024
    Einreichung der finalen Manuskriptversion | 31.01.2025

    Die Abstracts bitte unter https://umfrage.hu-berlin.de/index.php/268214 einreichen.

    Bei Problemen mit dem Online-Formular bitte per Mail an kontakt@zds-online.de wenden.

    Mit freundlichen Grüßen vom Herausgeber*innenteam:

    Julia Biermann, Mai-Anh Boger, David Brehme, Petra Fuchs, Swantje Köbsell, Rebecca Maskos, Lisa Pfahl

    Literatur

    Barsch S. & Bösl, E. (2022). Disability History. Behinderung sichtbar machen: Emanzipationsbewegung und Forschungsfeld. Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, 19(2), 219-234. https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2440

    Bösl, E. & Frohne, B. (2022). Disability History. In A. Waldschmidt (Hrsg.), Handbuch Disability Studies (S. 127-142). Springer VS.

    Burch, S. & Rembis, M. A. (Hrsg.). (2014). Re-Membering the Past: Reflections on Disability Histories. In S. Burch & M.A. Rembis (Hrsg.). Disability histories (S. 1-13). University of Illinois Press. https://www.jstor.org/stable/10.5406/j.ctt6wr5rt.5

    Köbsell, S. (2015). Leibeigenschaften – eine barrierefreie Ausstellung über den Umgang mit Beeinträchtigungen in der Vormoderne In Th. Degener, Theresia & E. Diehl Handbuch Behindertenrechtskonvention (S. 38-42). Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/Handbuch_Behindertenrechtskonvention.pdf