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Der Call for Papers zur 2. Ausgabe: Abseits und Jenseits des Sozialen Modells

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„Abseits und Jenseits des Sozialen Modells – 
Neuer Realismus und Phänomenologie der Behinderung”

Nach wie vor ist die Frage, was Behinderung überhaupt ist, wie sie sich definieren, modellieren, theoretisieren und (anders) denken lässt, die ‚Gretchenfrage’ der Disability Studies. Einerseits wird sich dabei weiterhin auf das Soziale Modell bezogen: Welche Weiterentwicklungen, neuen Entwürfe, Gegenentwürfe und interessanten Kritiken gibt es zu diesem? Andererseits wird aber auch erörtert, dass es an der Zeit wäre, nicht mehr nur mit Modellen zu arbeiten, sondern die Arbeit am Begriff stärker an die Theoriebildung rückzukoppeln (ex. s. Waldschmidt 2020). Welche Theorien zu Behinderung gibt es?

Die zweite Ausgabe der Zeitschrift für Disability Studies widmet sich daher dieser grundlegenden Frage, die seit der Gründungsstunde der Disability Studies zu ihrem Kern gehört:

Was ist Behinderung aus der Perspektive der Disability Studies? 

Wie lässt sich Behinderung aus einer sozial- und kulturwissenschaftlichen oder aber aus einer philosophischen Perspektive begrifflich fassen und beschreiben? 

So gibt es Vertreter_innen der Disability Studies, welche dem Sozialen Modell die Treue halten wollen, aber dennoch monieren, dass dieses aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ungenügend sei: Wie ließe sich aus diesem Modell, das im aktivistischen Kontext geboren wurde und zu politischen Zwecken in der skandierbaren Zeile ‚Wir sind nicht behindert, wie werden behindert‘ verdichtet wurde, eine tragfähige (konstruktivistische) Theorie machen? Müssen wir dies (im Zuge der Akademisierung der Disability Studies)? 

Im Unterschied zu Theorien, die eine Arbeit am Begriff eröffnen, wird in Modellen ein Objekt X – in diesem Fall ‚Behinderung‘ – dimensionalisiert oder in Faktoren zerlegt. Was zeigt sich über die Tragfähigkeit sowie über die Grenzen des Sozialen Modells in Versuchen der Operationalisierung und Quantifizierung desselben? Inwiefern wird darin eine Objektivierung und (Re-)Medizinalisierung des Behinderungsbegriffs wiedereingeführt oder eben unterbrochen? 

 

In den verschiedenen Herangehensweisen bei der Definition, Modellierung und Theoretisierung von ‚Behinderung’ zeigt sich häufig auch der Unterschied zwischen Empirismus und Empirie sehr deutlich: Zu der dominanten medizinischen Perspektive des (vermeintlich) objektiven, positivistischen Draufblicks gehört auch ebenjener Modus der statistischen Modellierung bei gleichzeitiger Begriffsarmut der empiristisch-quantitativen Forschung. Wo ist darin Platz für die Erfahrung aus der Ersten-Person-Perspektive? 

So würde man zum Beispiel aus der Phänomenologie heraus sagen: Die Erste-Person-Perspektive, die in den Disability Studies aufgrund des Anspruchs der Selbstvertretung behinderter Menschen so zentral ist, ergießt sich nicht im Modus der Modellbildung. Vielmehr spricht man in dieser Traditionslinie von ‚Theorien ersten Grades‘ oder aber ‚subjektiven Theorien‘ oder ‚verkörperten Theorien‘. Aus einer solchen Perspektive des verkörperten Wissens erscheint Modellbildung als eine Form positivistischer/empiristischer Verobjektivierung. 

 

Bemerkbar wird aus dieser Perspektive zudem eine paradoxe Körperlosigkeit des Sozialen Modells: So hält es zwar an einem Konzept dimensionalisierbarer Beeinträchtigung (impairment) fest, kennt aber weder einen Begriff von Körper noch von Leib. In welchem Verhältnis stehen Körperbegriffe zu Behinderungsbegriffen? Was kennzeichnet ‚Behinderung’ als körperliche Erfahrung? 

 

Ebenso relevant ist dabei die epistemische Frage nach der Situiertheit von Wissensproduktionen: Wie wird Behinderung aus der Subjektperspektive erfahren? Dies ist auf mindestens zwei Ebenen relevant. Erstens betrifft dies die Bedeutung der Selbstvertretung behinderter Menschen in den Disability Studies und zweitens schließt dies an Diskurse um ‚Epistemologies of the South’, um ‚epistemic (in-)justice’ und ‚epistemische Gewalt/Epistemizid’ an: Welche Bedeutung hat die Selbsterzählung bzw. die Theoretisierung der 1.-Person-Perspektive für das Umreißen eines Behinderungsbegriffs? Welche post-kolonialen Einsatzpunkte gibt es für die Arbeit am Begriff ‚Behinderung’ und für eine Dezentrierung westlicher/europäischer Perspektiven auf diese? Welche anderen Möglichkeiten gibt es, am Begriff ‚Behinderung‘ zu arbeiten? 

 

Bewegt durch die Annahme, dass Theoriebildung im Sinne eines eingreifenden Denkens (Brecht) in das Politische und die gesellschaftlichen Verhältnisse eingebettet ist und darin auf eine emanzipatorische Wirkung zielen sollte, lässt sich auch fragen, ob das Soziale Modell nach wie vor als skandierbarer, politischer Stachel taugt oder ob es dieses subversive Potential bereits eingebüßt hat: Welche Theoriebewegungen und Begriffe von Behinderung hätten derzeit subversives Potential? Welches situierte Wissen (Haraway) gibt es darüber, welche Theoretisierungen und Begriffsbildungen zu Behinderung als anstößig gelten bzw. irritieren oder politisch aufrütteln und welche dem hegemonialen Narrativ entsprechen, also Teil des ableist gaze sind? 

 

[Zur weiteren Planung: Dieses Heft fokussiert wissenschaftstheoretische und epistemologische Grundlagen. Anthropologische Fragen wurden darin ausgeklammert, da im weiteren Verlauf ein eigenes Heft zum Themenfeld Anthropologie(-kritik), Cyborg, Transhumanismus und (Anti-) Humanismus geplant ist.] 

 

Eingeladen sind Beiträge, die 

 

  • im Sinne kritischer Würdigungen, historischer Abhandlungen oder anderer argumentativer Abwägungsfiguren, den Diskursstand zum Sozialen Modell und/oder dem Kulturellen Modell von Behinderung resümieren
  • andere Entwürfe zur Theoretisierung von Behinderung einbringen, ohne sich weiter an Vorläufer-Modellen abzuarbeiten
  • sich mit einer Kritik am Sozialen Modell und/oder mit Kritiken am (Radikal-)Konstruktivismus befassen

 

Ebenso erwünscht sind Perspektiven, die sich jenseits und abseits der derzeit in den Disability Studies geläufigen konstruktivistischen Argumentationen bewegen – egal ob diese materialistischer, phänomenologischer oder ganz anderer Provenienz sind. Gefragt sind Einreichungen zu

 

  • Theorien des Körpers und die darin nahegelegten Behinderungsbegriffe
  • Phänomenologie der Behinderung und des Behindert-Werdens 
  • Philosophische Arbeiten zu Nominalismus, Kritischem/Neuem Realismus, Konstruktivismus(-kritik) etc.
  • Materialistische Behinderungsbegriffe & das Potential des New Materialism für die Disability Studies
  • Intersektionale Arbeiten zur Dezentrierung von Behinderungsbegriffen
  • International vergleichende und/oder post-koloniale Arbeiten zu Behinderungsbegriffen aus kulturtheoretischen, geschichtlichen, imperialismuskritischen etc. Perspektiven
  • Relevanz wissenschaftstheoretischer/epistemologischer/philosophischer Grundlagen für die DS und für den Aktivismus/die Behindertenbewegungen (Politische Philosophie) 
  • ….

Auch aus aktivistischen/politischen Kreisen werden Beiträge gesucht: 

Inwiefern taugt das Soziale Modell als politischer Stachel? Hat es (noch? nicht mehr? mittlerweile wieder?) subversives Potential? Woran merkt man das in der politischen Arbeit? Welche anderen Begriffe von Behinderung hätten derzeit politisches Potential? Welche Begriffe von Behinderung sind derzeit hegemonial?

Einreichung

Wir freuen uns auf zahlreiche Einreichungen! Die zweite Ausgabe der ZDS wird Ende 2021 erscheinen. Um das zu ermöglichen, bitten wir Sie/dich bei der Einreichung von Artikelideen die folgenden Fristen zu beachten:

| Einreichung Abstracts: | 01.03.2021
| Auswahl der Abstracts / Rückmeldung an Einreichende:  | 15.03.2021
| Einreichung des Manuskripts:  | 01.06.2021
| Versendung der Reviews an Einreichende: | 15.08.2021
| Einreichung der überarbeiteten Manuskripte:  | 30.09.2021
| Rücksendung 2. Feedback an Autor*innen: | 31.10.2021
| Einreichung der finalen Manuskriptversion:  | 30.11.2021

Die Abstracts können unter https://umfrage.hu-berlin.de/index.php/633545 eingereicht werden. 

Bei Nachfragen oder Problemen mit dem Online-Formular können Sie sich per Mail an
kontakt@zds-online.dewenden. 

Wir sind gespannt auf Ihre Einreichungen!

Mit herzlichen Grüßen,

das Herausgeber*innenteam – Julia Biermann, Mai-Anh Boger, David Brehme, Swantje Köbsell, Rebecca Maskos, Lisa Pfahl

Kontakt: kontakt@zds-online.de